100 Jahre OGV Ottenau – der Obst- und Gartenbau im Wandel der Jahrzehnte

1920er Jahre
Am Ende des Ersten Weltkriegs kämpften viele Menschen in Deutschland um das tägliche Überleben. Millionen Männer sind im Krieg gefallen oder verwundet worden. Zu den persönlichen Schicksalen kommen massive soziale Probleme. Brot gibt es zunächst nur gegen Lebensmittelmarken, Kinder müssen hungern. Den Menschen fehlt es nach Kriegsende am Nötigsten. Die Familien waren groß und kinderreich und es war nicht zuletzt die Not, die die Menschen zum eigenen Anbau brachte.

So kam es, dass sich auch in Ottenau Männer der Gemeinde entschlossen, einen Obstbauverein zu gründen. Zwanzig Gründungsmitglieder wählten Wilhelm Zapf zu ihrem Vorsitzenden. Bürgermeister Wilhelm Heck, der die Not seiner Bürger nur zu gut kannte, unterstützte die Vereinsgründung. Die Mit­glieder bemühten sich, den Verein mit Leben zu erfüllen. Der Nachholbedarf war groß. Obstbauinspektor Hopp aus Bühl unterstützte das junge Pflänzchen mit Anregungen und Vorträgen. Die Anfangsentwicklung war mühsam und spärlich.
Ende der 20er Jahre gab es die ersten Kurse, um das Wissen und Können im Obst- und Gartenbau zu erhöhen. Es fanden erstmals Einmachkurse in der Kochschule statt, um die Ernte länger haltbar zu machen. Erste Sammelbestellung von Erdbeerpflanzen und Obstbäume sowie die gemeinsame Beschaffung von Baumscheren verbesserten zudem die Voraussetzungen für den eigenen Anbau.

1930er Jahre
Die Weltwirtschaftskrise von 1929-33 hatte dramatische Auswirkungen. Die Industrieproduktion brach ein. Die Arbeitslosigkeit stieg rapide. Innerhalb kurzer Zeit befielen soziales Elend, Existenzängste und Verzweiflung die Bevölkerung. Während die Menschen mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise rangen, zog die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) die Macht an sich und stürzte Deutschland und die Welt in den unsäglichen 2. Weltkrieg.

Beim OGV wurden Fachkunde und Kompetenz im Obst- und Gartenbau weiter vorangetrieben. Es gab gut besuchte Kurse und Maßnahmen, um die viele Arbeit zu erleichtern oder zu vereinfachen, Lehrgänge zu Pflanzen, Schneiden, Düngen, Mostbehandlung sowie Einkochen und Sterilisieren von Obst- und Gemüse. Gestiegenes Wissen und Können zeigten sich in den Erfolgen bei Ausstellungen. Bei der Schädlingsbekämpfung hatte man bereits die Wichtigkeit von Vögeln erkannt und unterstützte das Aufstellen von Meisen Nistkästen mit einer Prämie von 0,4 Reichsmark pro Kasten.
Im Zuge der Gleichschaltung der Vereine in der Nazizeit wurden die Gaggenauer Vereine 1938 zwangszusammengelegt. Dies war ein harter Schlag und der Verein beschloss, den Kassenbestand aufzubrauchen und die Geräte unter den Mitgliedern zu verteilen.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kam das Vereinsleben zum Erliegen.

1940er Jahre
Nach dem Ende des Krieges ging es wieder um das bloße Überleben. Fast jede Familie hatte Angehörige verloren, oft auch das Dach über dem Kopf und das gesamte Hab und Gut. Millionen von Flüchtlingen waren unterwegs, es fehlte an Kohle und auch an Nahrungsmitteln.

So kam dem eigenen Obst- und Gartenbau wieder die Aufgabe zu, die Versorgung der Familie mit Nahrungsmitteln zu verbessern. Die Arbeit auf dem Acker und im Garten hatte nach den Schrecken des Krieges bestimmt eine therapeutische Wirkung für die Menschen. Es gab wieder Kurse, so dass mit mehr Wissen und Können die Ausbringung des Obst- und Gemüseanbaus erhöhte.
In Ottenau, das noch einen dörflichen Charakter mit kleinen Höfen und Nebenerwerbsanbau hatte, startete das Vereinsleben am 28.Juli 46 mit der ersten Generalversammlung nach dem Krieg. Gewählt wurden zum 1. Vorsitzen­den Otto Keller, zum Schriftführer Karl Haitz und  Rudolf Melzer als Kassier. Zu Beisitzern wählte man Friedrich Steimer, Wilhelm Heck, Karl Schnaible und Josef Hurrle.

1950er Jahre
sind das Jahrzehnt des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders. Die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard als Wirtschaftsordnung und die Unterstützung der Alliierten ermöglichten den raschen Wiederaufbau der Industrie. Ab Mitte der 50er-Jahre stieg auch die private Kaufkraft an, der Wohlstand in Deutschland wuchs.

Es begann die Ära der Baumwarte Preisler (Gaggenau), Götzmann (Rotenfels) und Kreisbaumwart Eisele (Oberweier), die künftig Schulungen und Schnittkurse im Landkreis durchführten. Die Obstanbauer produzierten über den Eigenbedarf hinaus und belieferten auch Märkte und Geschäfte. Seit 1952 wurde im Protokollbuch das Blü­hen, Reifen und Ernten mit Vermarktung über die MUAG, Murgtalabsatz-Genossenschaft dokumentiert.
Es gab Lehrfahrten und Besichtigungen z.B. Hofgut Amalienberg, Lehrgut Limburger Hof mit dem Ziel, Neues kennenzulernen und in die eigene Arbeit einfließen zu lassen. Im Vorstand unseres OGV übernahmen erstmals Otto Bindnagel und Herbert Pfistner Verantwortung. Sie prägten den Verein in den nächsten Jahrzehnten.

Die Eltern von Alfons Merkel 1954 auf ihrem Kartoffelacker. Der Besucher ist der indische Landwirtschaftsminister, der bei einer Vorführung auf dem Sauberg war.

1960er Jahre
Der Wohlstand war nach den Jahren des Wiederaufbaus in der Gesellschaft angekommen. Gleichzeitig waren die 60er Jahre das Jahrzehnt des Aufbruchs mit großer Bereitschaft zu Veränderungen und zur Abkehr vom Althergebrachten. Traditionelle Bindungen und gesellschaftliche Zwänge, die sich während der fünfziger Jahre eher verfestigt hatten, wurden rigoros in Frage gestellt. Es gab erstmals die Begriffe „Grenzen des Wachstums“ und „Umweltschutz“ in der gesellschaftlichen Diskussion.

Der eigene Anbau war nicht mehr notwendig für die Versorgung der Familien. Es tauchten Südfrüchte auf unseren Märkten auf und wurden zur Konkurrenz für die eigenen Erzeugnisse. Es lohnte sich nicht mehr so sehr, das eigene Obst zu vermarkten.
In Ottenau wurden viele neue Häuser gebaut. Das Neubaugebiet im Rain wuchs. Dort, wo vorher Wiesen und Äcker waren, entstand ein neues Wohngebiet. Die Gärten der neuen Häuser waren nicht mehr die traditionellen Hausgärten zum Eigenanbau von Obst und Gemüse. Die Gärten wurden mehr und mehr mit Zierpflanzen und Rasen gestaltet; es sollte schön aussehen.
In dieser Zeit gewann das Gesellige im Vereinsleben an Bedeutung. Es fanden regelmäßige jährliche Lehrfahrten und Ausflüge statt, die immer sehr nachgefragt waren.

Vereinsausflug zum Limburger Hof

1970er Jahre
Es war das Jahrzehnt geprägt von Krisen (die Ölkrisen von 1973/74 und 79), Umbrüchen und Veränderungen sowie dem Ende des langen Nachkriegsbooms der Wirtschaft. Die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen offenbarte sich, die Anti-Atomkraft-Bewegung und Umweltschutzgruppen entstanden. Die Probleme waren zu sehen und zu spüren: verschmutze Gewässer, schlechte Luft, vermüllte Landschaft, Energiehunger und Ölkrise.

Beim OGV war es die Zeit der Ortsverschönerung und Gestalten der Gärten als Erholungsort. Es ging weniger um Gartenbau, sondern um Blumen und Stauden, das schöne Gestalten des Gartens.
„Wie wird mein Garten und Balkon schöner?” „Erfolgreiche Ortsverschönerung durch Vorgarten-, Balkon- und Fensterschmuck“ hießen die Veranstaltungen.
1974 gestaltete der OGV die Anlage an der Kirche mit Rosenbeeten, Wegen und zwei Sitzbänken zur „Erholung zwischen Magnolien, Rosen und frischem Grün“.
Im gleichen Jahr übernahm Hans Pfistner sein erstes Amt im OGV und ist bis heute in Vorstand und Verwaltung aktiv.

1980er Jahre
Kalter Krieg, Tschernobyl, Waldsterben und das Ozonlochaber auch ein goldenes Jahrzehnt des Wohlstandslebens in Deutschland. Den Menschen ging es gut und immer besser. Mit dem Fall der Mauer breitete sich 1989 Zukunftshoffnung im Land aus.

Beim OGV gab es neue Angebote, wie Methoden zu Wühlmausbekämpfung, Bienen unsere Helfer, die Bedeutung von Humus und ein Sensendengelkurs, der vor allem bei jungen Leuten gut ankam.
Otto Bindnagel und Dieter Korzen gingen erstmals in die Merkurschule, um den beiden 9. Klassen Obst- und Gartenbau näher zu bringen. Es fanden Lehrfahrten statt unter anderem zu den Bundesgartenschauen.
Ottenau nahm erfolgreich an Blumenschmuckwettbewerben teil und bei dem Wettbewerb des Landkreises Rastatt „Unser Dorf soll schöner werden” erreichte Ottenau den 3. Platz.

1990er Jahre
Sie waren geprägt von einer Neuordnung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, in Deutschland die Wiedervereinigung. Es ist die Zeit der digitalen Revolution, Computer und Mobiltelefone dringen in unseren Alltag ein, das Internet kommt auf. Die Themen Artensterben und Insektensterben werden immer präsenter, die Ursachen und Folgen werden diskutiert.

Beim OGV werden regelmäßig Kurse und Vorträge angeboten. Die Vereinsbaumwarte Otto Bindnagel und Dieter Korzen führen regelmäßig Baumschnittkurse durch, zusätzliche gibt es Schnittkurse für Rosen, Ziergehölze und Sträucher. Das Thema ökologischer Anbau wird mit Vorträgen „Gesunder Garten, gesunde Pflanzen“ und zahlreichen Kompostlehrgängen gestärkt. Bei einer Aktion des Landkreises zur Förderung der Streuobstbaus wurden über den Verein 221 Bäume an die Mitglieder abgegeben.
Die Kooperation mit der Merkurschule lief, jährlich unterrichteten Aktive des OGV die Schüler der 9. Klassen zu Obst- und Gartenbau. Die Praxis wurde an drei vom OGV gepflanzten Bäumen im Schulbereich geübt.
In diesen Jahren entstand die Verbundenheit des OGV mit der Lebenshilfe. Es gab verschiedene Aktionen wie das Pflanzen und Pflegen von Obstbaumen im Garten des Wohnheimes.
Unser Verein feierte 70jähriges und 75jähriges Jubiläum.
An der 750 Jahrfeier von Ottenau beteiligte sich der OGV mit einem Wagen und einem Festzelt bei Familie Pregger.

Festumzug 750 Jahre Ottenau

2000er Jahre
Die Globalisierung und ihre ökonomischen und sozialen Folgen beeinflussen das „unsichere“ Jahrzehnt. Konflikte und Kriege, internationale Finanz-Krisen und Terror wirken sich auf die ganze Welt aus. Am stärksten ist die Dekade geprägt vom Klimawandel und dem wachsenden Umweltbewusstsein.

Die Ära von Otto Bindnagel als 1. Vorsitzender endete 2001 nach 30 Jahren. Brunhilde Ebinger folgte 2003 als
1. Vorsitzende unseres OGV, die erste Frau überhaupt im Vorstand.
Es gab weiterhin regelmäßig unterschiedliche Schnittkurse für Obstbäume. Es kamen Themen des Gartenbaus hinzu wie Düngung und biologischer Anbau, Gemüseanbau im Hobbygarten, gesunde Ernährung mit Obst und Gemüse, neue und weniger bekannte Gemüsearten und Sorten und Kräuterwanderungen.
Der OGV war sehr rührig bei der Bepflanzung und Pflege des Pionierweges und unterstütze mehrere Jahre lang die Saisonvorbereitung des Kuppelsteinbades. Die Vorstandschaft von Brunhilde Ebinger endete 2009 nach knapp 7 Jahren, Heinrich Stark trat nach 20 Jahren Schriftführer und 4 Jahre als 2. Vorstand zurück. Neuer 1. Vorsitzender wurde Joachim Gottstein.

2010er Jahre
sind ein Jahrzehnt der Veränderungen und der Unruhe mit mehreren globalen Krisen. Der Klimawandel wird immer offensichtlicher mit allen seinen Folgen für Mensch und Natur wie Massensterben der Arten und der Verlust der biologischen Vielfalt. Smartphone und Social Media halten Einzug bei den Menschen. Für die Vereine wird es immer schwieriger, (junge)Menschen zu finden, die mitmachen und sich engagieren wollen.

Weiterhin gab es die gut besuchten Schnittkurse, Lehrfahrten und Vorträge. Im Jahr 2012 feierte unser OGV sein 90jähriges Vereinsjubiläum. Bei einer Aktion mit dem Kindergarten St. Antonius legten Aktive des OGV kindgerechte Hochbeete an.
Ab 2015 war das weitere Bestehen unseres Vereins gefährdet, es konnten keine Mitstreiter für den Vorstand gefunden werden. Die Situation verschärfte sich und unser OGV stand kurz vor der Auflösung. Glücklicherweise konnte im September 2017 ein neuer Vorstand gewählt werden, 1. Vorsitzender Martin Wörner, 2.Vorsitzender Martin Stoll, Kassier Michaela Braunagel und Schriftführerin Ilse Schweikhart. Das Vereinsleben ging weiter, Kurse, Lehrfahrten und Aktionen wurden durchgeführt bis im Frühjahr 2020 die nächste Krise uns alle mit voller Wucht traf: COVID 19 schränkte das öffentliche und gesellschaftliche Leben für lange Zeit massiv ein.                                                               

2020er Jahre
sind in den ersten 3 Jahren ebenfalls sehr herausfordernd für Politik und Gesellschaft. Corona ist noch nicht vorbei, der Klimawandel zeigt sich immer drängender, der diesjährige Sommer war extrem warm und trocken. Dazu kommt der unsägliche Krieg Russlands gegen die Ukraine mit Folgen für die ganze Welt. 

Wir haben uns einiges vorgenommen für die nächsten 2-3 Jahre, um unseren OGV fit zu machen für die nahe Zukunft.
Wir wollen einen Lehrgarten erstellen und damit

* mehr Familien mit Kindern ansprechen
*das Wissen um Obst -und Gartenbau erhalten und erneuern
*Naturschutz, Artenschutz und Artenvielfalt im Obst- und Gartenbau stärken

Dort können wir Schulungen und Lehrgänge abhalten. Eine Idee ist es auch, unseren Vereinsmitgliedern Parzellen zur Verfügung zu stellen, damit sie in eigener Regie pflanzen, pflegen und ernten. Nicht jeder hat einen eigenen Garten. Unser Garten ist in bester Lage und gut zugänglich. Wir werden bei diesem Projekt von der Stadt Gaggenau und einigen Unternehmen aus Ottenau unterstützt. Dafür sind wir sehr dankbar.

Wir arbeiten auch an der Zukunftssicherung. Ein möglicher Zusammenschluss der Obst- und Gartenbauvereine Ottenau und Hörden würde helfen, den Bestand der Vereine über das nächste Jahrzehnt zu sichern. Wir sind der Überzeugung, dass wir gemeinsam bessere Möglichkeiten für die OGVs schaffen können. Wir denken darüber nach.